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I.

Schachmythologie.

Die Geschichte des Schachspiels, gewiss ein interessantes „Stück Cultur- und Litteraturgeschichte", war, von einzelnen verdienstlichen Specialforschungen abgesehen, bis jetzt noch nicht viel mehr als ein Märchen. Die kindlichsten Fehlschlüsse, welche auf jedem andern Gebiete der Wissenschaft als barbarisch gelten würden, grassiren unbeanstandet in der sogenannten Schachgeschichte. Liegt Palestina vielleicht etwa in Deutschland, weil auf deutschen Miniaturzeichnungen des Mittelalters bei der Darstellung des heiligen Abendmahls öfter auch der westfälische Schinken nicht fehlt, und weil der jüdische Feldherr Joab, auf Davids Klage über Absalons Tod, in einem alten Gedichte verzweifelnd ausruft: „das ist die Schuld mein, ich will mich ertrinken in den Rhein"? Oder hat Jesus sogar in seiner Zeit noch nicht existirende Sprachen geredet, weil ein schöner Pergamentcodex aus dem 13. Jahrhundert erzählt, dass er Französisch, Holländisch und Latein (hi coeste françoeis, diets ende latine!) kannte? Solche Fragen geografisch oder auch nur theologisch bejahen zu wollen, wäre selbstverständlich der reine Wahnsinn. Allein ganz so proletarisch unwissend sind, mit Ausnahme des tüchtigen Thomas Hyde (1694), die Schlüsse der bisherigen historischen Hauptautoritäten der Schachwelt, namentlich bei Madden (1831), Massmann (1839) und Forbes (1860). Nichts kann wol besser geeignet sein, auch den verstocktesten Autoritätsglauben unrettbar zu zerstören, als eine chronologische Zusammenstellung der wichtigsten Fabeln, welche nach einander über die Erfindung des Schachspiels erdichtet worden sind. Wir wollen zunächst auf die Orientalen, dann auf die Occidentalen hören.

Mas'udî (Abu'l-Hasan Ali ibn-el-Husein u. S. w. el-Mas'udi, gegen Ende des 9. Jahrhunderts in Bagdad geboren und gestorben zu Cairo 958. oder 959), einer der berühmtesten arabischen Autoren, schreibt im 7. Capitel seiner „Goldenen Wiesen" (Murudsch ed-Dzeheb, einer historischen Encyclopädie, zu welcher er das Material aus mehr als 80 Schriften und auf weiten Reisen bis nach Indien sammelte, weshalb ihn Sprenger den arabischen Herodot nennt): Die alten Hindus wählten einen König über sich, Barahman. Dieser regierte, bis er starb, 366 (sic) Jahre. Seine Nachkommen heissen Brahminen. Sein Sohn el-Bâhbûd, unter dessen Regierung das Nerdspiel, (Gildemeister übersetzt duodecim scriptorum ludus), ein blos auf Zufall und nicht auf Scharfsinn beruhendes Glückspiel, erfunden wurde,

v. d. Linde, Schach.

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regierte 100 Jahre. Andere sagen, dass Azdeshir ibn-Babek das Nerdspiel erfand; er stellte darin das Weltsystem dar: die zwölf Punkte des Brettes sind die 12 Monate, die 30 Steine, 30 Tage des Monats, die Würfel die Sinnbilder des Schicksals und seiner Tücken, denn Gewinn und Glück sind in dieser Welt ein blosser Zufall. Nach el-Bahbûd regierte Ramah, ungefähr 150 Jahre, nach diesem Für (Porus), der nach einer Regierung von 140 Jahren durch Alexander in einer Schlacht getödtet wurde. Dann folgte Dabschelim, der Verfasser von Kalila und Dimna, der 120 Jahre regierte. Darauf folgte Belhith (oder Balhit) und hier enthält nun das Original die älteste geschichtliche Schachstelle, welche überhaupt bekannt ist, die Hauptquelle für spätere Autoren ward, und die ich daher, nach der neuesten Ausgabe und Uebersetzung, vollständig mittheile1), „On inventa, à cette époque, le jeu d'échecs, (shatrandj auquel ce roi donna la préférence sur le trictrac, (Sprenger versteht unter dem Nerd gleichfalls Trictrac) en démontrant que l'habileté l'emporte toujours dans ce jeu sur l'ignorance. Il fit des calculs mathématiques sur les échecs, et composa, à ce sujet, un livre nommé Tarak-Djenka (Sprenger transscribirt: Torok Hanká Taïdá, Gildemeister hatte aber schon 1838 p. 142 die corrumpirten Wörter in Tschaturanga verbessert) qui est resté populaire chez les Indiens. Il jouait souvent aux échecs avec les sages de sa cour, et ce fut lui qui donna aux pièces des figures d'hommes et d'animaux, leur assigna des grades et des rangs, assimila le roi (Chah) au chef qui dirige (Sprenger hat irrthümlich: the king, shah, the administrator, mudabbir the queen, the officer, el-rais, d. h. Häuptling, = the bishop; es heisst im Texte: der König mit dem obersten Minister, wie Gildemeister auch ganz richtig übersetzt: regem cum moderatore summo), et ainsi de suite des autres pièces. Il fit aussi de ce jeu une sorte d'allégorie des corps élevés, c'est-à-dire des corps célestes, tels que le sept planètes et les douze signes du zodiaque, et consacra chaque pièce à un astre. L'échiquier devint une école de gouvernement et de défense; c'était lui que l'on consultait en temps de guerre, quand il fallait recourir aux stratagèmes militaires, pour étudier la marche plus ou moins rapide des troupes. Les Indiens donnent un sens mystérieux au redoublement des cases de l'échiquier; ils établissent un rapport entre cette cause première, qui plane au dessus des sphères et à laquelle tout

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1) Maçoudi. Les prairies d'or. | Texte et traduction || par || C. Barbier de Meynard et Pavet de Courteille. Tome premier. || Paris. || Imprimé par autorisation de l'empereur à l'imprimerie impériale. || MDCCCLXI. || 8vo. pp. 15961. Vgl.:

El-Mas ûdî's || historical encyclopaedia, || entitled ||,,Meadows of gold and mines of gems": || translated from the arabic | by Aloys Sprenger, M. D. || Volume I. | London: || printed for the oriental translation fund || of Great Britain and Ireland: ... || MDCCC.XLI. || 8vo. pp. 171-75 wo Noweiri's Encyclopaedie (Nihajet el-Arab fi Funun el Adeb, verfasst von Ahmed ibn Wehhâb en-Noweiri, 1332) ohne weiteres in Bezug auf das Schachspiel citirt wird. Jedenfalls eine untergeordnete Quelle. Ueber Mas'ûdî und seine Schriften sind zu vergleichen: G. Wüstenfeld, die Literatur der Erdbeschreibung bei den Arabern, in Joh. Gottfried Lüdde's Zeitschrift für vergleichende Erdkunde, I. Magdeburg 1842, p. 31; Reinaud, Introduction à la Géographie d'Aboulfeda, 1848 p. LXIV; Hammer, Literaturgeschichte der Araber, V. p. 509; Chwolsohn, die Ssabier, II. p. XVI; Flügel, die arabischen, persischen u. s. w. Handschriften der k. k. Hofbibliothek in Wien, II. 1865 p. 415; Hadschi Chalfa, Index VII. p. 1085 No. 3238.

aboutit, et la somme du carré de ses cases. Ce nombre est égal à 18,446,740,073,707,551,615 (Gildemeister und Sprenger haben richtiger 18,446,744,073,709,551,615, was aber erst ganz genau ist, wenn man das 1 des ersten Feldes hinzudenkt. Pisano schliesst im Jahre 1202 noch richtiger mit der Zahl 616), où se trouvent six fois mille après les chiffres de la première série, cinq fois mille après ceux de la seconde, quatre fois mille après ceux de la troisième, trois fois mille après ceux de la quatrième, deux fois mille après ceux de la cinquième, et une fois mille après ceux de la sixième. Les Indiens expliquent par ces calculs la marche du temps et des siècles, les influences supérieures qui s'exercent sur ce monde, et les liens qui les rattachent à l'âme humaine. Les Grecs, les Romains et d'autres peuples ont des théories et des méthodes particulières sur ce jeu, comme on peut le voir dans les traités des joueurs d'échecs, depuis les plus anciens jusqu'à es-Souli et el-Adli, les deux joueurs les plus habiles de notre époque. Le règne de Balhit, jusqu'à sa mort, dura quatre-vingts ans, ou, selon d'autres manuscrits, cent trente ans.“

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Belhiths Nachfolger war Kurush (Cyrus?), der 120 Jahre regierte. Nach seinem Tode wurde das Reich aber durch Religionszwiste zerstückelt und bekam viele Fürsten, von denen einer bis in unsere Zeit hinauf, d. h. im Jahre 332 943 el-Ballahra genannt wird. - So weit Mas'udi's Abriss der indischen Geschichte. Es wäre aber Zeitverschwendung, auseinandersetzen zu wollen, dass wir es mit blossen Fictionen (man beachte nur die Regierungszeiten der sagenhaften Könige) zu thun haben. Indessen Belhit wurde in einen beliebigen König Belhara (man könnte an die Ballabhi-Dynastie denken, welche Lassen, Ind. Alterthumskunde III, 1159 AD 319-760 regieren lässt) aufgelöst (s. Hyde I. pp. 38-52), und so kam Hyde's „Verdeutscher" Günther Wahl (Geist und Geschichte des Schachspiels 1798 pp. 97-115) nach vielerlei Manipulationen zu dem Taschenspielerschluss.,,Genug, Partabehand ist der Belhera, unter welchem die Geschichte der Verpflanzung (!) des Schachspiels aus Indien nach Persien und des Nerdspiels aus Persien nach Indien (wo bleibt Bahbûd?) zuverlässig (!!) vorgefallen ist."

Firdausi 999-1011: Unter dem Perserkönig Nûschirwan (oder Anuschirawan, Chosroës der Grosse, der 529-577 oder 531-579 regierte) wurde das Schachspiel (shatrandsch) durch eine eigens dazu bestimmte Gesandtschaft des indischen Königs von Kanudsch (kanyakubdscha), zu dem mächtigen persischen Herrscher geschickt. Von der richtigen Aufstellung der Figuren hing das Tributverhältniss beider Staaten ab. Erfunden wurde das Spiel, eine bildliche Darstellung des Kriegs, in Indien, zum Troste einer Königinn, deren zwei Söhne, Mai und Talchand, einen Bürgerkrieg gegen einander geführt hatten. Mit dieser ältesten persischen Sage hat es folgende Beschaffenheit: Nûschirwan, der grosse Pfleger der Künste und Wissenschaften) aus dem glänzenden Herrschergeschlecht der Sasaniden,

2) Unter Nûschirwân wurde das älteste vorhandene Fabelwerk, das Pantschatantram unter dem Namen der Fabeln des Bidpay, Pilpay in das Pehlwi übersetzt und später unter dem Titel Kalila und Dimna berühmt. Dr. Albrecht Weber, Academische Vorlesungen über indische Literaturgeschichte, Berlin, Ferd. Dümm

gab den Befehl, in allen Provinzen seines Reiches die Geschichten der alten Könige, die Alt-Iranische Sage, zu sammeln. Die so zusammengebrachten Materialien wurden in die Bibliothek der Sasaniden niedergelegt und später auf Geheiss des Jesdedscherd († 641) geordnet und vervollständigt. Den Auftrag zu dieser Arbeit erhielt Danischwer und brachte das Werk unter dem Titel Chodai-Nameh, d. h. Königsbuch, zum Abschluss. Das in Pehlwi geschriebene Buch liess Jakub Ben Leis, der Stifter der unabhängigen muhammedanischen Soffariden-Dynastie, gegen Ende des IX. Jahrhunderts in's Parsi übersetzen und durch Hinzufügung der noch fehlenden Ereignisse vervollständigen. Zwischen den Jahren 961-976 beauftragte Belami, der gelehrte Vesier des Abu-Salih-Manssur, einen mit poetischem Talent begabten Anhänger der Zoroastrischen Lehre, Namens Dakiki, die Sammlung der Iranischen Geschichten in Verse zu bringen. Allein Dakiki vollendete nicht viel über tausend Verse. Erst unter Mahmud I. von Gasna (997-1030) gelangte das gestörte Werk zur Ausführung und wurde die Heldensage von Iran durch Abul Kasim Manssur (940-1020), bekannter unter dem Namen Firdausi, d. h. der Paradiesische, in einem grossen Gedichte verewigt. Nach zwölfjährigem, durch gehäufte Widerwärtigkeiten verbittertem Aufenthalte am Hofe zu Gasnin 999-1011, vollendete Firdausi im 71. Lebensjahre (1011 n. Chr.) sein unsterbliches Epos von sechzigtausend Doppelversen: Schâh-Nameh (Königsbuch).

Die Bestandtheile, aus denen der grosse Körper des Schâh-Nâmeh zusammengesetzt ist, sind: 1. Die Königs- und Heldensage von Iran mit einer mystisch-symbolischen Einleitung; 2. Eine sagenhafte Ueberlieferung der späteren persischen Geschichte von der Zeit der letzten Nachkommen des Darius Hystaspis bis zum Sturze der Sâsâniden. „Diesen ganzen späteren Theil des Gedichts kann man am füglichsten den poetisch verzierten Chroniken vergleichen, deren das Mittelalter so viele aufzuweisen hat"). Zu der bunten Reihe der zuweilen novellenartigen Erzählungen aus der Sâsânidenzeit gehört nun auch der poetisch ausgeschmückte Bericht über die angebliche Einführung des Schachspiels am Hofe des Nuschirwan, auf den wir weiter unten ausführlich zurückkommen.

Ibn Challikan (geb. zu Arbela in Mesopotamien 608 = 1211, Kadi zu. Kâhira in Egypten und zu Damask in Syrien, † 681 1282): „Ich bin vielen Personen begegnet, welche glaubten, es sei a's 'Suli (s. unter Mas'udi p. 3) der Erfinder des Schachspiels, aber dies ist ein Irrthum, da das Spiel durch Sissa Ibn Dahir den Inder zur Unterhaltung des Königs Shihram erfunden wurde. Ardashir Ibn Babek, der Stammvater der letzten persischen Dynastie, erfand das Nerdspiel, das daher nerdashîr (also nerd Ardashîr)

ler, 1852, p. 196: A. Weber, Indische Skizzen, 1857, pp. 107-108; Pantschatantra, Fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen. Aus dem Sanskrit übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen von Th. Benfey, Leipzig, F. A. Brockhaus, 1859, Bd. I. pp. 64 ff.

3) Heldensage von Firdusi. In deutscher Nachbildung nebst einer Einleitung über das Iranische Epos von Adolf Friedrich von Schack, Berlin, Wilhelm Hertz, 1865. 4to. Einleitung. Forbes sucht seinen Lesern das Gedicht als Geschichte aufzubinden, führt dann aber gleichzeitig (1860, p. 48, 192) in Agathias (Historia lib. IV. cap. 30) und dem griechischen Interpreten Sergias am Hofe Nûschirwân's eine wichtige Instanz (als hier vollkommen berechtigtes argument. e silent.) gegen das so grosses Aufsehen erregende Schachspiel am Hofe des Perserkönigs an!

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